Als Anstaltsarzt/-ärztin in der Justizvollzugsanstalt

„Mit Sicherheit eine interessante, abwechslungsreiche und anspruchsvolle Tätigkeit” steht auf der Webseite des Justizportals Nordrhein-Westfalen zum Thema „Arzt/Ärztin im Justizvollzug”. Dass der ärztliche Dienst in einer Justizvollzugsanstalt diese Attribute sicherlich erfüllt, ist nicht von der Hand zu weisen. Doch vor allem ist er auch eines: unbedingt notwendig. Denn die Häftlinge der an die 200 Justizvollzugsanstalten in Deutschland haben selbstverständlich auch das Recht auf eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche medizinische Versorgung nach dem Strafvollzugsgesetz. Das waren zum Stichtag 31.08.2018 laut dem Statistischen Bundesamt immerhin 62.902 Personen.

Welche Voraussetzungen muss man mitbringen?

Neben den üblichen persönlichen Voraussetzungen wird ausdrücklich Wert auf die Vorurteilsfreiheit gegenüber Menschen mit strafrechtlichem und multikulturellem Hintergrund gelegt. Zudem ist es durchaus von Vorteil, konfliktfähig zu sein. Davon oder davor, was diese Eigenschaft implizieren kann, sollte man sich aber nicht abschrecken lassen! Konfliktfähigkeit ist im generellen Umgang mit Menschen und in jedem Beruf eine wichtiges Fundament. Sofern man seinem Gegenüber mit ärztlicher Empathie und Expertise gegenübersteht, hat man also nichts zu befürchten, trotz des vielleicht harscheren Umgangstons unter manchen Häftlingen.

Fachliche Anforderungen sind eine gültige Approbation als Arzt-/Ärztin oder die anderweitige Voraussetzung für eine Berufserlaubnis als Arzt in Deutschland. Die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin und/oder Innere Medizin ohne Spezialisierung ist wünschenswert, aber in der Regel kein Muss. Zudem wird in den letzten Jahren verstärkt die Zusatzbezeichnung „Suchtmedizinische Grundversorgung” verlangt bzw. die Bereitschaft, diese zu erlangen.

Wie sind die Arbeitsbedingungen?

Das ist womöglich der Aspekt, durch den der Arbeitsplatz so richtig glänzen kann. In unseren modernen Zeiten, die von beruflicher Selbstbestimmung und der Einstellung, sich nicht durch Überstunden in der Klinik seine Freizeit rauben zu lassen, geprägt sind, erscheinen geregelte Arbeitszeiten ohne Überstunden und Schichtdienst wichtiger denn je. All das bietet der Job als Anstaltsarzt/-ärztin: Geregelte Arbeitszeiten von Montag bis Freitag ohne Bereitschaftsdienst, flexible Arbeitszeitmodelle, ein sicheres Gehalt. Und das außerhalb leistungsorientierter Vergütung, wie es im kassenärztlichen oder dem DRG-System von Krankenhäusern der Fall ist. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist also in jedem Fall erfüllt. Hinzu kommt, dass bei Einstellung die unmittelbare Berufung in das Beamtenverhätlnis auf Probe erfolgt, mit einem attraktiven Einstiegsgehalt nach Besoldungsgruppe A13 bis A14 (weniger Abzüge!) oder nach dem TV-Ä. Alternativ erfolgt die Einordnung in kein Beamten-, sondern in ein Beschäftigungsverhältnis. Da die Nachfrage nach Ärzten im Justizvollzug relativ groß ist, verfügt man als Anbieter seiner Arbeitskraft auch ein Stück weit über den längeren Hebel, sodass Arbeitskonditionen aktiv mitbestimmt werden können.

Ein Erfahrungsbericht über eine besondere Famulatur

Hier könnt ihr den spannenden Erfahrungsbericht von Florian Gilles nachlesen, der eine Famulatur in der Justizvollzugsanstalt München abgelegt hat:

Meine Famulatur in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim

Im Rahmen des klinischen Abschnittes an der LMU München haben wir im Wahlfach „Besonderes Arbeitsumfeld“ die Möglichkeit, besondere ärztliche Tätigkeitsbereiche anzuschauen. Zu diesem außergewöhnlichen Seminar wurden wir in einer Kleingruppe durch die Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim geführt. Der Einführungstag hat mich sehr fasziniert und motiviert, eine „besondere Famulatur“ anzutreten. Die meisten meiner Kommilitonen/-innen leisteten für eine solche Erfahrung Famulaturen im Ausland. Ich musste lediglich eine halbe Stunde mit der Straßenbahn durch München fahren, um eine interessante und etwas andere Famulatur-Erfahrung zu machen.

Über ein kurzes Telefongespräch mit der Anstaltsleitung habe ich die Erlaubnis bekommen, mich schriftlich beim Medizinaldirektor zu bewerben. Ohne großen bürokratischen Aufwand wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen und dem Ärztekollegium vorgestellt. Nach dem netten Gespräch wurde ich zur Anstaltsleitung begleitet, um einen kurzen Praktikantenbogen auszufüllen und Einsicht in mein Führungszeugnis zu gewähren.

An meinem ersten offiziellen Famulaturtag durfte ich mich erneut bei der Anstaltsleitung melden. Dort erhielt ich gemeinsam mit einem neuen Mitarbeiter des psychologischen Dienstes eine Sicherheitseinweisung mit anschließender Führung über das Gefängnisgelände. Ein Teil der Einweisung bestand aus dem korrekten Umgang mit dem Sicherheitsfunkgerät, um bei einem „Zwischenfall“ Hilfe rufen zu können. Viel wichtiger war es allerdings für mich, keinen Fehlalarm auszulösen, um nicht unnötigerweise die sogenannte „Kavallerie“ anrücken zu lassen, die mich innerhalb kürzester Zeit im kleinsten Winkel der Anstalt finden und retten würde. Nach der Einweisung wurden mir zwei Universalschlüssel für verschiedene Schleusentore ausgehändigt. Diese durften auf keinen Fall die Gefängnisanstalt verlassen. Für diese überdimensional großen Torschlüssel habe ich mir vorsichtshalber die stärkste Schlüsselkette aus dem Baumarkt zugelegt, um sie immer sicher an meiner Gürtelschnalle zu tragen und nicht liegen zu lassen.

Nach der ausführlichen Einführung ging es zur täglichen Visite. Die JVA Stadelheim hat vier Krankenabteilungen, in denen Häftlinge mit verschiedensten medizinischen Indikationen aufgenommen werden. Die Bandbreite an Erkrankungen ist immens.

Neben den Krankenstationen, die von je einem Arzt und ein bis zwei Pflegeangestellten besetzt werden, gibt es noch eine medizinische Abteilung für Neuinhaftierte zur Eingangsuntersuchung und eine gut ausgestattete Notaufnahme, die 24 Stunden am Tag zur Verfügung steht.

Laut Gesetz muss jeder Neuinhaftierte eine Eingangsuntersuchung bekommen. Da München-Stadelheim zu den größten Justizvollzugsanstalten gehört, werden täglich zwischen 10 und 20, an Tagen des Oktoberfests manchmal auch das Doppelte an Neuinhaftierten aufgenommen. Das Münchner Oktoberfest hatte zu meiner Famulatur gerade erst begonnen. So wurden zu dieser Zeit viele Anhänger von Taschendiebbanden festgenommen.

Die Eingangsuntersuchung war ein Teil meiner Famulaturtätigkeit.

Hier ein kurzer Ablauf:

Aufnahmegespräch:

Soweit in deutscher oder englischer Sprache, oft allerdings nur einsilbig oder mit „Händen und Füßen” möglich. Wichtig waren Fragen nach Vorerkrankungen, Medikamenten, Alkohol, Drogen, psychischer Verfassung etc.

Körperliche Untersuchung:

Hauptsächlich Herz-, Lungen-, Abdomen-, und Nierenuntersuchungen

Erkennen außergewöhnlicher Hauterscheinungen oder Tattoos zur Identifizierung

Blutentnahme:

Blutbild

Detektieren von Infektionskrankheiten (ausdrücklich nur mit Zustimmung des Häftlings)

Röntgen-Thorax:

Ausschluss von Lungentuberkulose

Wichtig ist im Vorfeld zu wissen, dass der deutsche Staat für die Häftlinge während ihrer Haftstrafe eine sogenannte Fürsorgepflicht hat und für eine adäquate medizinische Behandlung aufkommt. Diese Untersuchung bietet für einige Menschen die Möglichkeit, wieder Zugang zu einer qualitativen, medizinischen Versorgung durch lebensrettende oder lebensverlängernde Maßnahmen zu erhalten.

Neben der Eingangsuntersuchung habe ich an den täglichen Visiten teilgenommen. Man kann sich vorstellen, dass die Erkrankungen der Patienten sehr vielfältig waren. Neben den „Klassikern“ wie Diabetes-, Hypertonie- und Antikoagulationseinstellung waren auch besondere Fälle zu behandeln.

Hier eine kurze Erfahrungsliste:

Spritzenabszesse an Armen, Beinen, Füßen und Hals

Selbstverletzendes Verhalten

Gerinnungsfaktormangel

Entzugssymptomatik nach Drogen- und Alkoholabusus

Pilz- und Skabies-Hauterkrankungen

Appendizitis

Wirbelsäulen-Querschnittsverletzung

Akuter Ileus

Akute Leukämie

Multiple Sklerose

Einige Simulanten

Viele Patienten mit Psychosen, Schizophrenie und Depressionen

Eine Besonderheit dieser Famulatur war, dass man freiwillig anderen fachärztlichen Kollegen bei den konsiliarischen Untersuchungen assistieren durfte.

Folgende medizinische Fachbereiche waren Gegenstand der Famulatur:

Zahnmedizin (es wurden viele Zähne gezogen)

Psychiatrie (Arbeit ohne Ende in einer JVA)

Dermatologie (teilweise aufgrund von schlechter Körperhygiene)

Kardiologie mit Herzultraschall (1:1-Unterricht am Sonographiegerät)

Orthopädie mit Physiotherapie (Häftlinge treiben während des Hofgangs sehr viel Sport wie Kraftsport und Fußball, mit entsprechenden Folgen)

Gynäkologie (Einsätze in der Frauenabteilung der Justizvollzugsanstalt München)

Eine weitere Besonderheit der JVA Stadelheim ist die Substitutionsabteilung. Diese wird von speziell ausgebildeten Ärzten geleitet. Es sind viele drogenabhängige Menschen in der JVA inhaftiert, die unter einer ärztlichen Kontrolle und Aufsicht Polamidon und andere Ersatzdrogen einnehmen dürfen. Die Gabe wird über spezielle Zelleneinrichtungen strengstens überbewacht. An dem Programm dürfen nur Häftlinge teilnehmen, die bereits vor Haftantritt an einer ärztlich geführten Substitution zuverlässig teilnahmen. Die Substitutionspatienten in der Haftanstalt sind im Umgang durch ihre Vorgeschichte eine ganz besondere Personengruppe.

Zu guter Letzt ist es ärztliche Aufgabe, die täglichen Häftlingsmahlzeiten zu kosten. Eine alte Tradition, die immer noch Bestand hat. Durch diese Kostproben habe ich gelernt, dass „Gefängnis-Essen“ bedeutend besser als Mensa-Essen schmeckt!

Mein Fazit der Famulatur

Eine Famulatur in der „Parallelwelt Gefängnis“, abseits von den TV-Serien „Orange Is The New Black“ und „Prison Break“. Hier lernt man ein breites Spektrum an Menschen mit ihren einzelnen Taten und Schicksalen kennen. Während meiner Zeit hatte ich nie das Gefühl, in Gefahr zu sein. Man war selten allein und hatte ständig nettes Personal um sich herum. Gegen jedes Klischee sind auch die meisten Häftlinge sehr umgänglich. Im Nachhinein kann ich mir kaum vorstellen, in einer anderen Famulatur in genauso viele Fachbereiche hineinschnuppern zu können, wie es in dieser der Fall war. Für mich persönlich war die Erfahrung  „hinter Gittern” einzigartig.

Erlebt und verfasst von Florian Gilles